„Wer sich zwischen zwei Stühle setzt, fällt auf den Boden“ (bulgarisches Sprichwort). „Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind ein günstiger“ (Seneca). Ja, und? Was hat das mit Wein zu tun? Die Antwort gibt uns der Tausendsassa in Sachen Wein.
DEUTSCHLAND (Dresden) – Was sich liest wie Auszüge aus einem Poesie-Album, sind – man glaubt es kaum – Texte aus einer Weinkarte in Form eines Buches. Durchblättern kann man sie in der WEIN | KULTUR | BAR in Dresden-Striesen von Silvio Nitzsche, der dafür bereits zum zweiten Mal eine hohe Auszeichnung als „Weinkarte des Jahres“ durch das Magazin Vinum erfahren hat und schon fast in Gefahr gerät, der FC Bayern München der Weinkarten-Disziplinen zu werden. Denn wer kann schon als relativ kleine Weinbar rund 2900 Weinpositionen aus 23 Ländern und regelmäßig 70 bis 90 offene Weine vorweisen, und das zu mehr als seriösen Preisen (12 Euro für die billigste Flasche, 2 Euro für den preiswertesten Schoppen).
Das alles ist eine Folge der Leidenschaft, die der Chef des Hauses für Wein empfindet und die er weitergeben will. In die Wiege gelegt war ihm das eigentlich nicht …
Aus dem tiefsten Osten in die Weinwelt
Geboren wurde er im Juli 1974 in der Gemeinde Altdöbern in Brandenburg, also im tiefsten Osten. Als die Wende kam und die Wiedervereinigung anstand, hatte er gerade die Schule hinter sich , wollte Koch werden, fand aber keine geeignete Ausbildungsstelle und entschloss sich dann, den Beruf des Kellners anzustreben. Allerdings im Westen, in Friesland. Hier erwarb er sich die ersten Sporen und offenbar so viel Meriten, dass er in einem Gourmet-Restaurant in Bayreuth Restaurantleiter wurde. In diese Zeitspanne fiel auch die Bekanntschaft mit einer jungen Dame, die bereits viel Weinbezug hatte. „Sie brachte mich auf den richtigen Weg“, blickt Silvio zurück. Er erlebte die ersten Wein-Offenbarungen, machte Entdeckungen, hatte aber bis heute nicht das Bedürfnis, eine Wein-Schulbank zu drücken. Er machte es wie viele in der Gastronomie: durch Wechseln fortbilden, sich entwickeln.
Zwischendrin sah es aus, als würde er von der Bundeswehr ausgebremst. Er kam zur Luftwaffe, war offiziell stationiert in Neuburg an der Donau, durfte aber in Casinos in Kanada seinen Wehrdienst ableisten und behielt so den Kontakt zu seinem Beruf. Die Speisemeisterei in Stuttgart mit Küchenchef Martin Öxle war seine nächste berufliche Station. Hier konnte er gleich erleben, wie es sich anfühlt, wenn ein Restaurant den zweiten Michelin-Stern erhält (1996). Und er bekam intensiveren Kontakt zum Wein. Elsass, Österreich, Paris nutzte er für weitere Schnupperlehren, ehe er für zweieinhalb Jahre nach Kalifornien ging, „um endlich richtig Englisch zu lernen“. Der Job, den er fand, prägte die weitere Entwicklung. Das Restaurant, in dem er tätig wurde, hatte über 2000 Weine im Angebot, unter anderem viele aus Deutschland und Österreich.
Als er noch überlegte, ob er in Kalifornien bleiben sollte, wurde im Jahr 2000 gerade in der Heimat der Sommelier-Job beim legendären Dieter Müller im Schlosshotel Lerbach in BergischGladbach frei – einem Haus, das mit drei Sternen dekoriert war. Man kannte sich vom Reinschnuppern vor Kalifornien, sodass Silvio für die nächsten fünf Jahre eine verantwortungsvolle Position bekleiden durfte. „Ich hatte unheimlich viele Freiheiten“, erinnert er sich dankbar zurück. Danach wechselte er für zwei Jahre gewissermaßen die Seiten, war bei dem Großhändler und Importeur KierdorfWein in verantwortlicher Stellung tätig, stellte aber bald fest, „Handel ist nicht meine Passion“. Also formte sich bei dem jungen, verheirateten Vater die Idee zu einer besonderen Wein-Bar, wie es sie in Deutschland noch nicht gab. Er witterte, dass das aufblühende Dresden ein guter Standort sein konnte und fand schließlich Räume in einem Haus, die vorher einen Friseur, einen Blumenladen und ein Café beherbergt hatten. 2007 war Eröffnung und seitdem floriert das Lokal glänzend. Die kleinen, engen Räumlichkeiten sind meist rappelvoll, vor allem aktuell, da auf Abstand zu achten ist. In der wärmeren Jahreszeit hat man die Chance, im Freien Sitzplätze zu ergattern. Es geht das Gerücht um, dass manche Stammgäste schon zwei Jahre im Voraus reservieren …

Silvio’s Weine
Das riesige, vielseitige Weinangebot hat eben eine enorme Anziehungskraft. Vor allem stehen jede Menge reifer Weine, teilweise einige Jahrzehnte alt, im Wein-Buch, dies zu unschlagbaren Preisen und deshalb ein Schnäppchen für jeden Fan, der nicht auf dem Wein-Jugend-Trip ist. Dass es dafür genügend Gäste gibt, macht der Stempel „ausverkauft“ bei etlichen Weinen deutlich. Um eine einigermaßen aktuelle Auswahl offerieren zu können, wird das Buch in einer Auflage von zehn Exemplaren jedes halbe Jahr neu aufgelegt. „Ich habe eine Druckerei gefunden, die gern einen so speziellen Auftrag übernimmt“, lacht Silvio.
Woher kommen die Weine? „Ich verkoste jedes Jahr unglaublich viel“, erläutert er. „Ich achte auf Trends, fahre aber nicht auf sie ab, sondern sondiere sorgfältig. Ich suche lieber selbst und will nicht mit Proben überschüttet werden. Händler sind eine gute Informationsquelle. Und viele reife Weine bekomme ich über Kellerauflösungen.“ So etwas ist dann für seine Gäste oft eine richtige Offenbarung und Überraschung. Besonders gut passen ältere Gewächse zu seiner raffinierten Auswahl an Käse. Er selbst hat keine besonderen Vorlieben bei Sorten oder Herkünften. „Das wäre auch gefährlich, weil man so schnell zum Missionar werden kann. Und ich will offen für viele Sachen bleiben.“

Der Tausendsassa in Sachen Wein
Vinum nannte ihn kürzlich einen „positiv Weinverrückten“. Das lässt er strahlend auf sich sitzen. Und gern tanzt er gelegentlich noch auf anderen Hochzeiten. Schon mehrfach veranstaltete er zum Beispiel mit Winzer Friedrich Aust aus Radebeul einen Weinkorken-Weitwurf-Wettbewerb mit einigen Dutzend Teilnehmern. Die Besten kamen dabei über 22 Meter. Vor einigen Jahren richtete er in einem kleinen Restaurant, das vorher von seiner mit ihm inzwischen friedlich geschiedenen Frau Roswitha betrieben wurde, eine „Wein-Projekt-Bar“ ein, in der Interessenten drei Monate lang Chef üben konnten. 2018 fand sich dann eine Teilnehmerin, die daraus einen Dauer-Job machte.
Und zuletzt entwickelte er mit dem fränkischen Glas-Hersteller Zieher in Himmelskron die Weinglas-Serie „Vision“, die sich auf wenige Formen in förmlich ästhetischem Design beschränkte und vielseitig einsetzbar ist. „Etwas für bestimmte Rebsorten zu machen wie manche Hersteller, das war nicht mein Ding“, erläutert er. Die handgefertigten, hauchfeinen, doch stabilen Gläser orientieren sich mehr am Charakter des Weines. Durch die schwungvolle Formgebung wird er optimal belüftet und lässt im Vergleich mit anderen Gefäßen das Aroma besonders klar entfalten. In seiner Bar kommen diese Gläser aber nicht generell zum Einsatz, dafür ist deren Preislage zu hoch (zwischen rund 75 bis knapp 100 Euro für ein 2er-Set).