Der traditionsreiche Direktvermarkter Pieroth will zukünftig seinen Markenkern stärker herausstellen. Dabei liegt der Fokus auch auf dem eigenen Weingut. Seit 1675 ist die Familie Pieroth an der Nahe daheim. Die Zeiten, in denen man sich verschämt hinter dem Firmennamen WIV – Wein International AG versteckt hat, sind vergangen. Zukünftig soll der Name Pieroth wieder im Mittelpunkt stehen.
DEUTSCHLAND (Rümmelsheim) – Der Chef persönlich holt mich am Empfang ab: Es ist (beinahe) wie bei einem typischen Weingutsbesuch – wenn auch wegen Corona mit Maske. Dr. Sebastian Potyka gibt sich entspannt und locker, wir schlendern zum 1805 errichteten Stammhaus. Das Gebäude wurde 2020 stilgerecht saniert und steht sinnbildlich für 345 Jahre Weinbau in der Familie. Das helle Haus schließt den Hof ab, von dem man in den Weinkeller gelangt und der seitlich von einer Bruchsteinmauer begrenzt wird. In der Vinothek erwartet uns WeingutsGeschäftsführer Dirk Friesenhahn: Seit 17 Jahren ist er im Haus, seit 2019 firmiert er als verantwortlicher Weinmacher.
Nach Austausch der wichtigsten Informationen (25 Hektar Rebfläche in besten Lagen von Burg Layen mit der Hauptrebsorte Riesling) werden die Gewächse in der Vinothek in kleiner Runde verkostet – wie es in einem Weingut üblich ist. Deshalb vergesse ich für einen Moment, wo ich eigentlich bin: Ich befinde mich in der Zentrale des weltweit größten Direktvermarkters für Wein – 1200 Weinberater verkaufen weltweit 12 Millionen Flaschen Wein!
Die Pieroth Wein AG erzielt einen Jahresumsatz von knapp 180 Millionen Euro, aber wir sitzen nicht in einer Vorstandsetage vor einer PowerPoint-Präsentation, sondern gemütlich in der Vinothek und verkosten Ortsweine, Lagenweine und ein Großes Gewächs: Was denn nun? Ist das jetzt ein echtes Weingut oder nur eine Inszenierung als Teil einer Marketing-Strategie?
Besinnung auf den Markenkern
„Seit 1675 ist die Familie Pieroth an der Nahe daheim. 1704 wurden erstmals Weinberge in Burg Layen bewirtschaftet und 1731 hier der Stammsitz des Unternehmens errichtet. Wir sind im Kern ein Weingut!“, erläutert Dr. Sebastian Potyka. Klingt erst mal überzeugend. Ich habe mir den smarten Manager distanzierter, glatter vorgestellt. Mein Vorurteil: Wer über zehn Jahre lang Geschäftsführer der Bekleidungsfirma van Laack GmbH war, der führt ein Weingut nicht mit Gummistiefeln, sondern mit Manschettenknöpfen. Aber diesem Bild entspricht der Genussmanager ganz und gar nicht. Auch ohne Janker passt er durchaus zur ländlichen Szenerie und bringt zudem die Erfahrung mit, wie man eine Marke wertig platziert.
So überzeugend das Unternehmen im Vertrieb da steht – der Dienstleister Pieroth will seinen Markenkern stärker herausstellen: Der Name Pieroth steht wieder im Mittelpunkt. Die Zeiten, in denen man sich verschämt hinter dem Firmennamen WIV – Wein International AG versteckt hat, sind vergangen. Weil 1985 in einem Abfüllbetrieb der Firma glykolhaltiger österreichischer Wein entdeckt wurde, drohte in der Folge des Glykolskandals die Insolvenz des traditionsreichen Unternehmens. Ein neuer Firmenname war damals Teil der Strategie, die Firma neu aufzustellen. Heute heißt es „back to the roots!“ – zurück zum alten Firmennamen, zurück zum Weingut.
Und so waren die Anfänge: 1953 entwickelten die Brüder Kuno und Elmar Pieroth ein neues Konzept der Weinvermarktung. Als erstes Weingut in Deutschland verkauften sie ihre Weine im Direktvertrieb: Bei einer Weinprobe im heimischen Wohnzimmer orderten die Konsumenten und wurden nach Hause beliefert. Das Verkaufsmodell wurde häufig kopiert und dank Loriot („abgezapft und original verkorkt von Pahlgruber & Söhne“) ein Klassiker der Comedy. Das Unternehmen befindet sich heute noch im Familienbesitz – Johannes und Andreas Pieroth sind in den Gremien Familienrat und Aufsichtsrat vertreten.
Auch in dem Pandemiejahr 2020 mit seinen globalen Auswirkungen in der Weinbranche hat sich die Pieroth AG gut behauptet: Das Umsatzziel konnte erreicht werden. Zu den aktiven 600.000 Stammkunden (!) wurden neue hinzugewonnen – dank fortschreitender Digitalisierung und der Entwicklung neuer Formate waren die Weinberater auch online erfolgreich. Die Pieroth Wein AG ist ein Dienstleister: Für renommierte Weingüter füllt sie Weine ab, kreiert global funktionierende Weinmarken und handelt mit Qualitätsweinen – in Japan zum Beispiel ist Pieroth größter Wiederverkäufer von Opus One. Zudem ist Pieroth ein echtes Weingut.

Auf dem Weg
Während unseres angeregten Gesprächs in der Vinothek verkosten wir den 2019er Münster-Sarmsheimer Grauburgunder, den 2019er Weißburgunder Bingerbrücker Römerberg, den 2019er Burg Layen Riesling trocken, den 2019er Dorsheimer Pittermännchen Riesling, den 2019er Pinot Blanc Fumé und den 2019er Pieroth Großes Gewächs Riesling 2019. Alle Weine erscheinen mir sehr charaktervoll und eigenständig, mit sauber herausgearbeiteten Aromen und konzentriertem, gehaltvollem Geschmack. Besonders vom Pinot Blanc Fumé bin ich spontan sehr angetan.
„Wir wollen in die Weinführer – bei Vinum sind wir schon drin!“, wünscht sich Dr. Sebastian Potyka. „Da gehört das Weingut mit diesen Weinen auch hin!“, denke ich mir. Natürlich: Im Vergleich zu den großen Namen an der Nahe wie Dönnhoff, Emrich-Schönleber, Schäfer-Fröhlich, Crusius, Diel, Hermannsberg und Kruger-Rumpf ist noch Luft. Aber das Potenzial ist im Weingut vorhanden, und das Know-how ebenso. Wenn die Pieroth Wein AG so zielstrebig und geduldig an der Qualität der eigenen Weine arbeitet wie bei der globalen Vermarktung ihrer Handelsweine, bin ich davon überzeugt, dass an der Nahe ein weiteres herausragendes Weingut heranreift.